In den letzten Monaten habe ich viele Bewerbungsgespräche geführt. Die Vorstellung davon, wie solche Termine ablaufen sollen, sind immer noch unfassbar starr. Oft wird auf beiden Seiten des Tisches eine lang einstudierte Choreographie aufgeführt. Nichts darf schiefgehen. Alles ist auf Hochglanz poliert, jedes Lächeln kommt exakt im richtigen Moment. Kein Stirnrunzeln darf Irritation oder Zweifel verraten. Alles soll so ‚professionell‘ wie möglich aussehen. Ich bin immer wieder baff (und manchmal frustriert), wie schwierig es sein kann, diese Erwartungshaltung aufzubrechen.
Wir müssen reden
In meinem ständigen Bemühen, möglichst viel Authentizität in diese Begegnungen zu bringen, ist mir eines klar geworden: Wir müssen über Professionalität sprechen. Warum? Weil Professionalität ein sehr unklarer Begriff geworden ist. Solange uns das nicht bewusst wird, besteht die Gefahr, dass wir die oft dominante toxische Seite des Konzepts nicht deutlich genug sehen.
Wann hat euch zum letzten Mal jemand Professionalität abverlangt? Und was genau wurde da eigentlich eingeklagt? Mein Verdacht ist, dass sich Professionalität oft genau da zur Normsetzung aufschwingt, wo es darum geht, Dinge zu verbergen, die eigentlich dringend ans Tageslicht befördert werden sollten. Ein paar Beispiele:
1. Toxische Professionalität und Fehlerkultur: „So etwas darf dir einfach nicht passieren.“
Gerade in diesen pandemischen Monaten vergeht kein Tag, an dem nicht über Fehler und Fehlentscheidungen gesprochen wird. Natürlich: Fehler können fatale Konsequenzen haben – und die Sehnsucht danach, dass insbesondere Menschen, die viel Verantwortung tragen, alles richtig machen, ist groß. Aber Menschen neigen zu Fehlern.
Hinter der Forderung nach Professionalität steckt oft der Wunsch, endlich alle Falten aus der Welt zu bügeln. Geht dennoch etwas daneben, fällt es in Anbetracht des Professionalitätsanspruchs schwer zuzugeben, wenn man selbst der Auslöser dafür war.
Wer um jeden Preis ‚professionell‘ bleiben will, wird dazu tendieren, Fehlentscheidungen zu kaschieren. Mit der Konsequenz, dass wir die Chance verlieren, Fehler-Dominos früh ‚aufzuhalten‘, Fehlerquellen zu verstehen und künftig ähnliche Probleme zu verhindern.
2. Toxische Professionalität und berufliche Schwachstellen: „Wie, das kannst du nicht?“
Wenn „ein Profi am Werk“ ist, rechnet man nicht mit Schwächen oder Unwissen. Dabei werden unsere Arbeitswelten immer komplexer und dynamischer. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir trotzdem ‚alles mitbringen‘ und stets alle Tools zur Verfügung haben, um jederzeit mit lückenloser professioneller Perfektion zu glänzen, sinkt. Und das ist in Ordnung, solange wir verstehen, dass es mit dem Dazulernen nie vorbei sein wird.
Wenn uns allerdings toxische Narrative von Professionalität die Möglichkeit nehmen, die eigenen Schwächen zu benennen und uns darüber klar zu werden, was wir noch lernen müssen, ist das eigentlich nichts weniger als ein Desaster.
3. Toxische Professionalität im Umgang mit Persönlichem: „Das Thema lass mal besser aus der Arbeit raus.“
Perfekte E-Mails schreiben aus dem Wochenbett? Trotz Fieber auf Dienstreise fahren? Niemandem auf der Arbeit vom Trauerfall im Freundeskreis erzählen, weil man damit nur die Meetingroutine sprengt? Das kann man natürlich machen. Und damit erst einmal dafür sorgen, dass niemand einem vorwerfen kann, man halte den Betrieb auf.
Es ist nicht verwerflich, Dinge mit sich selbst auszumachen. Aber das vielleicht sogar gut gemeinte Bemühen, noch im größten Orkan mit fleckenfreier Bluse makellose Arbeitskraft zu bleiben, verzerrt den Wettbewerb und gibt auch anderen das Gefühl, diesen Ansprüchen gerecht werden zu müssen. Das ist auf Dauer für alle anstrengend. Und es verhindert, dass wir für uns und unsere Organisationen gemeinsam wachsen.
In Erscheinung treten
In meiner LinkedIn-Timeline bin ich neulich auf ein Interview mit Thomas Dugaro gestoßen. Thomas leitet das IT-Team bei Gruner & Jahr und berichtet in dieser Podcast-Folge davon, wie es ist, sich in einer persönlichen Krisensituation seinen Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen mitzuteilen. Anstatt so zu tun, als belaste ihn nichts, und weiter ‚störungsfrei‘ zu funktionieren, entscheidet er sich ganz bewusst für Offenheit.
Ganze Menschen gegen Gift
In der Debatte um New Work und Neues Arbeiten stößt man recht häufig auf den Wunsch, „als ganzer Mensch zur Arbeit“ kommen zu dürfen. Das Konzept ist zum einen dem Ideal verpflichtet, dass auch im beruflichen Kontext niemand einen wesentlichen Teil der eigenen Identität (beispielsweise die sexuelle Orientierung) verstecken muss.
Mindestens genauso wichtig scheint mir aber ein zweiter Aspekt, der mit der Idee des „ganzen Menschen“ verbunden ist: Wer auf der Arbeit nicht einfach so glatt wie möglich seinen Job erledigt, sondern in Erscheinung tritt – mit allen Fehlern, Schwächen und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt – der ist auf dem besten Weg, toxischer Professionalität den Rücken zu kehren.
New Professionalism
Ich will in einem Team arbeiten, in dem gilt: Wer einen Fehler macht, verliert niemandes Respekt. Wer um Hilfe bittet – ganz gleich, ob im beruflichen oder im privaten Bereich -, wird aufgefangen.
Ich will mit Menschen arbeiten, die Sätze sagen wie: „Das habe ich falsch entschieden.“ Und: „Ich drücke mich oft vor Telefonaten, weil ich ein bisschen Angst davor habe. Was rätst du mir?“ Ich will sagen dürfen und hören: „Mich belastet gerade etwas, das nichts mit dieser Aufgabe zu tun hat.“ Darin drückt sich für mich eine neue, radikale Art von Professionalität aus, die ich sehr viel zeitgemäßer finde.
Und ja: Es kann sein, dass aus dieser Art von Zusammenarbeit nur selten eine perfekte Choreographie hervorgeht. Dafür aber sehr resiliente und engagierte Teams.
Wie schön das klingt!! Das klingt nach dem Gegenteil von allem, was uns seit der Kindheit eingetrichtert wurde: funktionieren und Leistung bringen geht über alles.
Schön, Deinen Blog gefunden zu haben, danke.