Corona-Mind: Von scharfen Kanten und lästigen Fliegen

Corona-Mind: Von scharfen Kanten und lästigen Fliegen

April 2021. Lockdown-Monat fünf im dritten Lockdown. Bei der Monatszählung bin ich mir fast sicher. Bei der Anzahl der Lockdowns nicht. Was ist ein Lockdown? Wenn ich versuche, das Wort an politische Maßnahmen zu knüpfen, verschwimmt alles. 

Ich zähle stattdessen die Phasen, in denen wir unser Kind nicht in die Kita geben können oder das Gefühl haben, dass das unverantwortlich ist. Ich zähle die Monate, in denen ich Angst um unsere Familie habe, weil meine Frau in der Schule zum Präsenzunterricht einbestellt wird. Ich zähle die Wochen, in denen ich hoffe, dass meine Eltern endlich geimpft werden.  

Alle Kanten werden schärfer

„Alle Kanten werden schärfer“, hat vor ein paar Tagen ein Freund bei einem Spaziergang zu mir gesagt. Eine Woche Urlaub nach Ostern, in der ich mir vorgestellt hatte, bei sonnigen Ausflügen ins Umland Kraft zu tanken, fällt dem Aprilwetter zum Opfer. Der Frust, den das bei mir auslöst, steht in keinem Verhältnis, finde ich. Aber in keinem Verhältnis wozu?

Mir geraten zunehmend die Chronologien durcheinander: Haben wir vor oder nach dem Osterwetterbericht erfahren, dass meine Frau nun überraschend schnell, dann aber plötzlich doch nicht geimpft wird, weil AstraZeneca erst unbedingt verimpft werden und dann gar nicht mehr zum Einsatz kommen sollte? Ich könnte das aus meiner Twitter-Timeline rekonstruieren. Aber was würde es ändern.

Alle Kanten werden schärfer. Gleichzeitig ist der Alltag voller mittelgroßer Frustrationen, die wir verscheuchen wie lästige Fliegen. #LaschetDenktNach. Die Bildungssenatorin will abermals nicht mit den Schulleitungen sprechen, bevor sie über #Schulöffnungen und #Wechselunterricht entscheidet. Meine Mutter ist seit fast dreißig Jahren chronisch krank (#MultipleSklerose), die Krankheit gehört aber nicht zu denen, die ihr in der Reihenfolge der zu Impfenden eine höhere Priorität verleihen würde. 

In meinem Kopf trenne und sortiere ich den Nachrichtenmüll so gut es geht

All das lese ich und wische es so schnell wie möglich vom Bildschirm. In meinem Kopf trenne und sortiere ich den Nachrichtenmüll so gut es geht, aber die Kategorien ändern sich so schnell, dass sich vermutlich schon Fehler eingeschlichen haben.

Ich klebe an meinem Handy. Das Kind beschwert sich – zu Recht. Es fällt mir nicht leicht, mich auf das Feuerwehr-Löschkommando im Kinderzimmer einzulassen. Und die Krokodile sind aus dem Zoo ausgebrochen, wer fängt sie wieder ein.

In mir verschieben sich Achsen und Glaubenssätze

In mir verschieben sich Achsen und Glaubenssätze. Das geht vielen so, lese ich auf Twitter. Was ist „regieren“? Welchen Wert hat Gemeinschaft? Was nutzt Vernunft, was Wissenschaft. Und was können wir ausrichten? Fällt mir nebenher noch etwas ein dazu, während ich Ängste, Kinderbetreuung und Arbeitspensum bewältige? Ach ja. Gestern habe ich eine Petition unterschrieben. 

Ab und an spricht jemand ganz direkt einen Politiker bei Twitter an. So einen echten, im Anzug! Und mit Entscheidungsgewalt und seriösem Gesichtsausdruck. Abends diskutieren wir uns dann die Köpfe heiß: Ob wir das Kind eventuell ab nächster Woche doch in die Kita geben, wenn meine Frau wieder an der Schule unterrichten muss? 

Wird sich das Leben wirklich schlagartig leicht anfühlen, sobald wir alle eine Impfung und einen Haarschnitt haben?

Der Notbetreuungsantrag muss bis spätestens morgen ausgefüllt sein. Ich brauche also dringend einen Standpunkt, aber es gibt einfach zu viel Für und Wider. Ich kann genauso leidenschaftlich fürs Zuhauselassen diskutieren wie dagegen. Der Verlag, in dem ich arbeite, stellt Eltern zusätzliche Urlaubstage zur Verfügung. Einer davon ist noch übrig. Wie weit komme ich damit. Und ich weiß ja, die Bücher müssen trotzdem gemacht werden. 

Wenn wir es irgendwie geschafft haben werden, nicht krank geworden zu sein – wie wird es uns dann gehen, in dieser glitzernden Welt „nach Corona“? Wird sich das Leben wirklich schlagartig leicht anfühlen, sobald wir alle eine Impfung und einen Haarschnitt haben? Und was, wenn nicht?  

Immerhin ist es mir gerade gelungen, die Krokodile einzufangen. Das Kind strahlt. Der Senat funkt durch: Es gibt erstmal keine Präsenzpflicht für die meisten Jahrgänge. Also doch keine Notbetreuung nötig! Es sei denn, jemand setzt noch eine richtige Knaller-Petition auf, die mit ordentlich argumentativem Wumms begründet, warum alles verloren ist, wenn die Berliner Schulkinder weiter zu Hause lernen. Bis dahin hab ich aber vielleicht wenigstens noch den Brand im Lego-Haus gelöscht.

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