Wie fühlt es sich an, diskriminiert zu werden?

Wie fühlt es sich an, diskriminiert zu werden? Ich kann diese Frage entlang vieler Geschichten beantworten. Die jüngste beginnt mit einem Coaching, für das ich mich letzten Sommer entschieden habe. 

Ich wollte gern mit jemandem darüber nachdenken, was es für mich bedeutet, ein Team zu leiten. Was bringe ich dafür mit? Wo kann ich dazulernen? Diese Themen sind nicht selten eng verbunden mit der eigenen Biographie; die Sitzungen mit der Coachin waren sehr bereichernd und gingen ‚ans Eingemachte‘.

Wir hatten bereits etwa 15 Stunden miteinander gearbeitet, als an einem Nachmittag im November etwas passierte, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Homophober Angriff beim Coaching

Wir sprachen über die Frage, was mir in der Zusammenarbeit mit Menschen besonders wichtig ist. Ich will, das konnte ich mittlerweile formulieren, sichere Räume schaffen, in denen Menschen sich offen austauschen und dann gemeinsam wirksam werden können. 

Warum das so ist? „Vielleicht“, sagte ich, „weil ich als queerer Mensch schon so oft mit dem Gefühl konfrontiert war, nicht sicher zu sein und mich nicht gefahrlos zeigen zu dürfen.“ Ich fand das plausibel und war gerade dabei, das Bild weiter zu entwickeln, als die Coachin mich unterbrach.

Queere Menschen sind keine besseren Menschen

„Queere Menschen sind übrigens nicht per se die besseren Menschen.“ Ich war verwirrt. Das hatte ich natürlich nicht behauptet. Dass ihr Zwischenruf mir das unterstellte, warf mich aus dem Konzept. 

Was folgte, war ein kurzer Monolog meiner Coachin über ihre Erlebnisse mit queeren Menschen. Sie habe sehr viele schwule Freunde. Sie kenne „all die Spiele der Jungs“ genau und sei absolut sicher, dass da „nicht immer alles so rosa-wolkig“ sei, wie „man das oft behauptet“.

Stillgestellt

Aus meiner Verwirrung wurde Bestürzung. Diese Art, pauschalisierend und zugleich abwertend über eine ganze Gruppe von Menschen zu sprechen, passte so gar nicht zu der überaus reflektierten Person, mit der ich mich in den letzten Stunden so angeregt unterhalten hatte. Hatte ich mich vielleicht verhört? 

In meinem Kopf kamen alle Gedanken zum Stillstand und überschlugen sich gleichzeitig. Wie sehr wünschte ich, mir würde in solchen Momenten Eloquentes einfallen! Oder wenigstens Souveränes. Stattdessen stand ich mit dem Rücken zur Wand und konnte kaum atmen. „Ich finde diese Perspektive gerade sehr irritierend“, hörte ich mich noch sagen – da ging es schon weiter.

Where do I begin?

Wo ich denn noch diskriminiert werde heutzutage, das wolle sie einmal von mir wissen. Rechtlich seien die Homosexuellen den Heterosexuellen doch nun wirklich gleichgestellt. Irgendwann müsse auch mal gut sein mit der Unzufriedenheit.

Ich versuchte immer noch angestrengt, meine eigenen Gedanken einzuholen. Wo sollte ich anfangen? Wenn ich in alltäglichen Kommunikationssituationen solchen Positionen begegne, bleibe ich meistens ruhig und versuche es mit Aufklärung. Ich erzähle dann zum Beispiel, wie wenig gleichgestellt ich war, als ich als zweite Mutter in unserer Familie mein eigenes Kind adoptieren musste. Und mache deutlich, dass wir als Familie damit für eine ganz lebenspraktische rechtliche Sicherheit kämpfen mussten, die den meisten heterosexuellen Familien nicht einmal ins Bewusstsein dringt.

An diesem Nachmittag aber fühlte ich mich ausgeliefert. Die Situation überforderte mich in mehrerlei Hinsicht, vor allem, weil sie so asymmetrisch war: da eine Coachin, hier eine Klientin. 

Nichts wie raus hier

Ich versuchte es noch einmal mit leisem Widerspruch, wurde aber sofort in die Schranken gewiesen. Sie wisse sehr wohl, wie es sei, Angehörige einer Minderheit zu sein. Schließlich habe sie als Kind rote Haare gehabt.

Dass sich aus roten Haaren keine vergleichbare strukturelle Ungleichheit ableiten lässt – mir lag es auf der Zunge. Aber an diesem Nachmittag fehlte mir die Kraft. Ich spülte eine Mischung aus Wut, Ohnmachtsgefühlen, Schmerz und Ungläubigkeit mit einem Schluck Wasser hinunter, stieg auf mein Fahrrad und fuhr durch den Regen nach Hause.

Homophobie auf Rechnung

Ein paar Tage später brach ich das Coaching offiziell ab. In einer langen E-Mail an meine Coachin benannte ich die Diskriminierungshandlung und auch die dadurch entstandene Verletzung. Dann versuchte ich, mit dem Erlebnis abzuschließen.

Drei Monate später bekam ich eine Rechnung. Ich sollte die verkorkste Sitzung in voller Höhe bezahlen. Und da war er wieder: dieser ungute Cocktail aus Wut, Hilflosigkeit und Schmerz.

Wie spricht man mit Menschen, die offenbar kein Unrechtsbewusstsein haben, über die Tatsache, dass man ihr Verhalten als Unrecht empfindet? Noch einmal schrieb ich, dass aus meiner Perspektive während des letzten Termins ein gravierender Fehler passiert sei, der unser Vertrauensverhältnis irreparabel beschädigt habe. Ich bat darum, den Rechnungsbetrag wenigstens etwas zu reduzieren. Mir ging es nicht ums Geld, sondern um die Geste.

Kein Fehler, kein Dialog

Aber ich drang mit meiner Botschaft nicht durch. Es tue ihr leid, mich so verletzt zu haben, schrieb die Frau. Einen Fehler habe sie allerdings nicht gemacht. Sie sei schließlich keine Expertin für queere Lebensfragen. Auf einen Teil des Honorars zu verzichten, komme für sie nicht in Frage. Stattdessen bot sie mir zwei kostenlose Stunden zur Klärung des Konflikts an. 

Ich habe die Rechnung sofort bezahlt und nicht mehr geantwortet. Noch heute bin ich unsicher, wie ich dieses Erlebnis und meinen eigenen Umgang damit bewerten soll. Es ist sicher legitim, dass ich mich schützend vor mich selbst geworfen habe. Aber war es klug? Trug ich damit nicht dazu bei, Fronten zu verhärten und ließ eine Chance, für Aufklärung zu sorgen, ungenutzt?

Ein Teil von mir wünscht sich immer noch, ich hätte die Kraft gehabt, das Gespräch fortzusetzen. Vielleicht hätte ich meiner Coachin dann von der Eisberg-Theorie erzählt.

Diskriminierung und die Eisberg-Theorie

Erst Jahre nach meinem Coming Out habe ich nämlich verstanden: Das Schlimme an Diskriminierungserfahrungen ist nicht die Äußerung eines einzelnen Menschen, sondern die Erkenntnis, dass sie nur die Spitze des Eisbergs ist. Das sichtbare Ereignis eines strukturellen Problems. 

Die Struktur ist unbarmherzig, wenn man ihr nicht passt. Diese Unbarmherzigkeit kann jede*n von uns aus irgendeinem Grund zu irgendeinem Zeitpunkt treffen. Weil wir queer sind. Weil wir Frauen sind. Weil wir einen Migrationshintergrund haben. Weil wir nicht die ‚richtige‘ Sprache sprechen. Oder unsere Eltern nicht studiert haben. Weil unser Körper nicht der Norm entspricht oder unsere Psyche. Weil wir viele Kinder haben – oder keine. Weil wir alt geworden sind oder plötzlich ernsthaft krank.

Was mich tröstet: Wir können Banden bilden. Wir können uns gegenseitig dabei unterstützen, die Strukturen, in denen Diskriminierung entsteht, immer wieder für andere sichtbar zu machen. Und ihnen dann etwas Neues entgegen setzen.

Lesetips

Linus Giese: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (erschienen bei Rowohlt, 2020)

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten (erschienen bei Hanser, 2019)

Beide Bücher gibt es auch als Hörbucher von den Autor*innen selbst gelesen (z.B. bei Spotify).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Christine Henschel

    Liebe Anja, so etwas soll und darf nicht passieren. Gern bin ich Teil der Bande! Danke dir fürs Teilen. Dicke Umarmung!

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