Letztes Jahr im Sommer wünschte sich unser damals fast vierjähriger Sohn ein neues Bett, „am liebsten ein Hochbett“. Wir fuhren also einmal quer durch Berlin zu einem kleineren Möbelhaus, das wir gern mögen, trafen eine Entscheidung und packten die Möbelteile zum Zusammenschrauben in den Kofferraum des Leihautos.
Belohnungsprojekt gone wrong
Das Drama begann zu Hause und verlief in mehreren Akten. Wir gingen optimistisch ans Werk, das Bett war bald so gut wie aufgebaut – nur eine der Schrauben ließ sich partout nicht in das dafür vorgesehene Gewinde drehen. Ich zerstörte erst eine Schraube. Dann eine zweite. Schließlich schien klar: ohne neues Gewinde kein neues Bett.
Ich schnaubte. Für den Ausflug ins Möbelhaus hatte ich mir extra einen Tag Urlaub genommen. Einen lang herbeigesehnten Tag Urlaub nach einem fürchterlichen, pandemischen Frühling, der uns als Familie kaum Zeit zum Durchatmen gelassen hatte. Das Bett war nicht nur ein Bett. Es war ein Belohnungsprojekt.
Selbstmitleid steigt aufs Rad
Ich tat mir also erst einmal leid, stieg aber am darauffolgenden Wochenende aufs Rad, fuhr eine Stunde durch die Stadt, ließ mir ein neues Gewinde geben, fuhr eine Stunde zurück und stand, überzeugt, das Problem nun gelöst zu haben, wieder vor der Hochbett-Ruine, die seit ein paar Tagen das halbe Kinderzimmer einnahm.
Erste kurze Euphorie: Gewinde und Schraube griffen zumindest jenseits der Bretter, die sie zusammenhalten sollten, hervorragend ineinander. Sobald wir Gewinde und Schraube aber wieder in die Bretter schoben: Fehlanzeige.
Wir untersuchten die Bretter und verstanden: Nicht das Gewinde war das Problem. Es war die Bohrung für die Schraube, die die Schraube leicht schräg auf das Gewinde treffen ließ. Anstatt eines neuen Gewindes hätten wir also ein neues Brett gebraucht.
Wut telefoniert mit Kund*innenservice
Selbstmitleid Stufe zwei: Ich war wütend. Und tat, was vermutlich viele Menschen mit Wut tun: Ich rief den Kund*innenservice an. Ob ich mit dem Brett mal eben vorbeikommen könne, fragte die Stimme des Mitarbeiters aus dem Möbelhaus freundlich, dann sehe man sich das gerne an.
Es macht wenig Sinn, es rückblickend zu beschönigen: Ich verlor die Fassung. Natürlich hatte ich keine Lust, zum dritten Mal durch diese viel zu große Stadt zu fahren! Natürlich war ich der Meinung, dass ich keinesfalls dafür verantwortlich war, ein zwei Meter langes Brett von A nach B zu bringen! Wenn jemand in der Pflicht war, irgendetwas zu unternehmen, dann war es doch – bitteschön – das Möbelhaus (und damit der Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung)!
Intervention aus dem Service-Center
Der Mitarbeiter hörte sich meinen Rant eine Weile an. Dann unterbrach er mich. Er war hörbar mitgenommen und getroffen von meiner Tirade. „Ich verstehe Ihren Ärger. Aber ich kann Ihnen nicht so helfen, wie Sie es gern hätten.“
„Unser Möbelhaus ist mit dem Einrichtungsfieber, das die Pandemie ausgelöst hat, momentan komplett überfordert“, fuhr er fort. „Zwei meiner Kollegen sind krank. Alle unsere Fahrten sind bis Mitte nächster Woche ausgelastet. Und ich kann ein 2-Meter-Brett nicht einfach in einem Taxi auf den Weg bringen. Die Corona-Trennscheiben zwischen Vorder- und Rückbank schränken die Transportmöglichkeiten der Autos einfach zu sehr ein. Es tut mir wirklich leid, aber Sie müssen sich noch einmal auf den Weg machen.“
Ich kam zu mir. Und mein eigener Auftritt war mir sofort sehr unangenehm. Ich hatte mir mehr Service gewünscht. Aber „Service“ ist ein schwieriges Konzept – denn damit verbunden ist unweigerlich der Gedanke, man habe auch Anspruch darauf. Und das Möbelhaus war offensichtlich am Ende seiner personellen Kapazitäten.
Alle müde. Und jetzt?
Pandemie, Lockdown und Doppelbelastungen aller Art bringen in den letzten Monaten für viele ganz individuelle Überarbeitungs- und Müdigkeitsmomente mit sich. „Is anyone at any given time during any day of the week *not* tired?“, fragte eine meiner Kolleginnen neulich auf Twitter. (Cheers, @RabeaRi!)
Mit den Menschen sind auch die Strukturen und Abläufe in Unternehmen und Organisationen oft spürbar am Limit. Wie wollen wir damit umgehen? Es wird uns nicht viel helfen, einander einfach wütend unsere Forderungskataloge an den Kopf zu werfen.
Manchmal brauche ich jemanden mit deutlichen Worten am anderen Ende der Leitung, damit ich das nicht vergesse.
Mut zur Enttäuschung
Wir bleiben Menschen. In der Pandemie, aber natürlich auch darüber hinaus. Wie oft bringen wir andere in eine ähnliche Position wie ich den Mitarbeiter des Möbelhauses im vergangenen Sommer? Und wie oft geraten wir selbst in solche Überlastungssituationen? Wir verstehen den Anspruch unseres Gegenübers dann deutlich, müssen ihn vielleicht sogar als berechtigt anerkennen, können aber trotzdem einfach nicht weiter.
Es erfordert sehr viel Klarheit und Selbstbeherrschung, in solchen Momenten ruhig zu bleiben. Sich nicht zu verstecken, nicht zurückzubrüllen. Stattdessen Schwäche zu offenbaren, Grenzen zu ziehen, Erwartungen zu enttäuschen.
Ich wünsche mir sehr, dass wir den Mut dazu immer wieder haben. In den Teams, in denen wir miteinander arbeiten, in den kollegialen Netzwerken, im Umgang mit Kund*innen, Dienstleistern, Auftraggeber*innen. Warum? Weil wir uns nur dann weiterhin als Menschen begegnen können – gerade auch, wenn wir in professionellen Rollen agieren.
Die dritte Fahrt ins Möbelhaus habe ich übrigens gut verkraftet. Und das Hochbett meines Sohnes steht in der Zwischenzeit sicher und stabil.
Ich mag Storys aus dem wahren Leben und finde es toll, wenn daraus Ableitungen für einen selber erfolgen. Danke für den schönen Beitrag > #MehrMenschsein