Die Geschichte beginnt im Januar 2017. Ich war in diesem Januar müde wie selten zuvor in meinem Leben. Unser Sohn war gerade vier Monate alt. Und obwohl nicht ich, sondern meine Frau ihn auf die Welt gebracht hatte und ihn stillte, schlugen wir uns natürlich beide die Nächte um die Ohren.
Kein Job für müde Menschen
Seit ein paar Wochen arbeitete ich wieder. Ich bin Lektorin in einem Wissenschaftsverlag. Ein Beruf, bei dem Menschen außerhalb der Buchbranche sofort an Manuskriptberge und Lektüre denken. Das ist Quatsch. Mein Job ist Akquise, Projektmanagement, Produktentwicklung und Netzwerkpflege. Es sind schnelle Tage im Lektorat, es braucht präzise Kommunikation, ganz viel Gespür für (Zwischen-)Menschliches, dabei ist die Fehlertoleranz traditionell nicht sehr hoch. Man muss also ständig auf der Hut sein. Nichts für müde Menschen.
Mir half eine Mischung aus Zucker und Kaffee, für kurze Zeitspannen eine Art nervösen Normalzustand herzustellen, den man noch am ehesten mit Wachsein vergleichen konnte. Aber mehr hatte ich nicht zu bieten.
Presentation Mode
Im Januar 2017 saß ich in einem massiv ausgeleuchteten Konferenzraum in einem Berliner Hotel auf dem großen Winter-Meeting des internationalen Sales Teams. Das Lektorat trifft hier auf den Vertrieb. Man bespricht Strategien, weist einander auf Chancen und Sackgassen hin, berichtet von neuen Produkten.
Ich wollte die Kolleg*innen an diesem Tag in einer viertelstündigen Präsentation von den Inhalten und Funktionalitäten eines gerade erschienenen digitalen Lexikons überzeugen.
Macht das Rampenlicht aus
Wer mich ein bisschen kennt, weiß: Präsentationen machen mir Angst. Es gibt keinen Zeitpunkt in meinem Leben, an dem ich freiwillig ins Rampenlicht getreten wäre.
Wenn mich etwas rettet in diesen Momenten, dann ist es mein rhetorisches Geschick, hinter dem ich alle Unruhe verschwinden lasse. Zuflucht in der Sprache, mein Panzer, im schlimmsten Fall mein Angriff als beste Verteidigung. Das Problem war nur: Mein Publikum an diesem Tag war international besetzt und die Präsentation musste auf Englisch gehalten werden.
“Englisch: fließend in Wort und Schrift”
In meinem Lebenslauf in diesen Tagen stand unter der Überschrift “Sprachen”: Englisch: fließend in Wort und Schrift. Ich hatte ein hervorragendes Englisch-Abitur abgelegt und im Ausland studiert – wo war also das Problem?
Ich dachte zurück an mein Bewerbungsgespräch im Verlag, mein erstes ‘richtiges’ in der freien Wirtschaft überhaupt. Und an den so vorhersehbaren und dann doch fürchterlich überraschenden Moment, als mir nach etlichen Fragen auf Deutsch nun eine Frage auf Englisch gestellt worden war. Die bis dahin leichte, angenehme Unterhaltung war von einem Moment auf den anderen zu einem Kraftakt geworden. Ich hatte Worte an den Haaren herbeigezogen, jede Silbe auf die Goldwaage gelegt, das Ende meiner Sätze dort gefunden, wo es nicht hingehörte.
Zu meiner eigenen Verblüffung hatte mein Bewerbungsgespräch-Englisch aber offenbar ausgereicht. Und deshalb saß ich nun im Januar 2017, also ziemlich genau drei Jahre später, in einem Berliner Konferenzhotel, aß zu viele Kekse, kippte schlechten Kaffee hinterher und hatte Angst.
Auftritt: Panik
Mein Slot war eigentlich für den Vormittag geplant gewesen. Aber die Agenda hatte sich im Lauf des Tages mehrmals um sich selbst gedreht und so war es fast 18 Uhr, als mein Vortrag begann.
Es waren nur etwa 15 Minuten. Ich hatte keinen Text, den ich hätte ablesen können. Ich wollte frei sprechen und hatte genau das in den letzten Tagen natürlich immer wieder geübt. In den ersten zehn Minuten lief alles reibungslos.
Und dann kamen die ersten Zwischenfragen. Auf die ich spontan Antworten finden musste.
Das Licht war plötzlich greller. In meinem Kopf war so viel Raum, dass mir die Sätze, die ich darin suchte, winzig vorkamen. Ich schrumpfte selbst ein bisschen mit und dann sah ich mich von oben und wusste gleichzeitig, dass ich hier unmöglich bleiben konnte. Mir wurde schwindlig. Jemand holte mir ein Glas Wasser. Eine Kollegin brachte mir ein Tellerchen mit Keksen.
Was ist passiert?
In den darauffolgenden Jahren habe ich immer wieder über dieses Erlebnis nachgedacht. Was ist da passiert? Und wichtiger noch: warum?
Die Antworten und Geschichten, die ich bekommen habe, waren der Anstoß für diesen Blog. Auf einer individualpsychologischen Ebene ist es natürlich fast banal: Ich habe mich in einer physisch und psychisch anstrengenden Lebenssituation mit perfektionistischen Ansprüchen an mein berufliches Ich schwindelig gespielt.
Erst als ich begann, mit anderen Menschen über meine Erfahrung zu sprechen, offenbarte die Geschichte eine weitere Funktion, mit der ich nicht gerechnet hatte. Wann immer ich nämlich erzählte, dass es die Sprachbarriere war, vor der ich fast buchstäblich eingeknickt war, erntete ich in der Regel großes Verständnis. Erstaunlicher noch: Immer wieder nahmen meine Gesprächspartner*innen meine Offenheit zum Anlass, mir von eigenen, ganz ähnlichen Unsicherheiten zu berichten.
Wie sind wir da nur reingeraten?
Es scheint mir mittlerweile, als sei ich umgeben von Menschen, die laut ihres Lebenslaufs zwar ebenfalls “Englisch fließend in Wort und Schrift” beherrschen, aber zumindest große Angst davor hätten, einen Vortrag in englischer Sprache halten zu müssen. Freund*innen und Bekannte geben zu, komplexeren Sachverhalten in englischsprachigen Meetings regelrecht auszuweichen, weil sie nicht sicher sind, ob sie formulieren können, was sie einbringen möchten. Sie berichten auch davon, wie schwer es ihnen fällt, ihre Vorgesetzten nach einem Sprachkurs zu fragen. Die Scham darüber, nicht gut genug Englisch zu sprechen, ist zu groß.
Die Beobachtung, dass so viele Menschen, die ich kenne und schätze, angeben, etwas sehr gut zu können, bei dem sie sich dann selbst eher als Dilettant*innen erleben, hat mich ehrlich verblüfft. Würden wir denn behaupten, auf dem Niveau einer Sterne-Köchin Gerichte zubereiten zu können, wenn wir im Alltag ehrlicherweise schon die Nudeln nicht salzig genug kriegen? Würden wir allen erzählen, dass wir im Delfinstil den Ärmelkanal durchschwimmen, wenn wir tatsächlich schon nach einem Kilometer Brustschwimmen mit Nackenschmerzen das Becken verlassen?
Wir haben uns in eine bizarre Situation hineinmanövriert: Fließendes Englisch ist eine conditio sine qua non in der heutigen Berufswelt. Gleichzeitig hat aber die entsprechende Formulierung in unseren Lebensläufen viel zu oft nichts mit der Wahrheit zu tun. Sie ist Teil der Bewerbungsverkleidung, die man sich in Vorstellungsgesprächen auch umlegt, wenn man nach seinen “größten Schwächen” gefragt wird und lächelnd antwortet, man sei einfach “zu perfektionistisch”.
Was ist das für ein Phänomen? Wie sind wir da nur alle reingeraten? Und wichtiger noch: Warum fällt es uns so schwer, damit aufzuhören?
Noch mehr fließend?
Mein Verdacht ist: Unsere Englischkenntnisse sind nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt noch sehr viel mehr Dinge, die wir angeblich “fließend” beherrschen. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das uns zu Blender*innen macht. Wir sind “flexibel” und “agil”, obwohl wir Angst vor Veränderungen haben; wir bringen natürlich die “Bereitschaft zu Mehrarbeit mit”, obwohl wir wissen, dass uns Zustände der Erschöpfung heimsuchen, wenn wir am Wochenende arbeiten. Und ach ja: beim “sicheren Umgang mit Microsoft Office” macht uns doch in der Regel auch niemand was vor. Oder eben doch?
Es wird Zeit, über das zu sprechen, was wir nicht (so gut) können, obwohl es uns als eine Selbstverständlichkeit abverlangt wird. Denn wie wollen wir um Hilfe bitten, wenn wir all unsere Kraft darauf verwenden, so zu tun, als bräuchten wir keine?
Der Begriff Fake It Till you make it kommt mir da in den Sinn. Und das ist oft im Leben. Hilfe ich habe den Führerschein. Jetzt soll ich selbst allein fahren können? Hilfe ich habe ein Baby ? Wer ist so blöd und vertraut mir mein Baby an? Ich habe im Beruf jetzt eine Kompetenz und darf xxx. Wirklich? Wir müssen oft so tun, als ob wir was können. Manchmal können wir es dann auch wirklich. Oder nur ein wenig? Mein Englisch ist auch sehr gut, aber plötzlich umstellen der Sprache, mit Fachbegriffen etc. ist immer schwer. Und dann fällt ein Begriff nicht ein und man hängt. Und bekommt Panik. Mehr üben? Ja, mit professioneller Hilfe. In der Firma nach Weiterbildung fragen. Warum nicht? Als ich nachfragte, stellte sich heraus, dass in der Firma bereits mehrere Kurse auf verschiedenen Niveaus liefen.
Liebe Janine, danke für deinen Kommentar! Ja, ich finde auch: unbedingt nachfragen. Sehr schön zu lesen, dass das bei dir geklappt hat. Ich kenne viele, die sich das nicht trauen. Und weiß auch von etlichen Firmen, die sich für diese Weiterbildungen erst einmal nicht verantwortlich fühlen. Und dann ist es umso wichtiger, dass man den Bedarf anmeldet! Nicht nur beim Thema Fremdsprachenkompetenz übrigens.
Ich kenne das, was du beschreibst nur allzu gut, jedoch dreht sich das bei mir in eine andere Richtung.
Mein Englisch ist auf dem Stand 7. Klasse Realschule. Ich hatte nie Angst Englisch zu sprechen, darum wurde ich auch nie besser.
Ich mache ständig Fehler, aber meine Gegenüber verstehen mich, oder zumindest tun sie so.
Meine Einstellung ist: Ich kann alles irgendwie, aber nicht richtig. Ich mache da keinen Hehl daraus.
Ich glaube die meisten Menschen nehmen mich deshalb nicht ernst, oder unterschätzen mich dadurch absolut.
Also auch nicht gut? Ich muss praktisch so tun als könnte ich es viel besser (was mir eigentlich zu wieder ist).
Das ist eine super spannende Frage! Vor allem, weil sie zeigt, dass die Souveränität in manchen Skillsets dazu führt, dass wir insgesamt ganz anders wahrgenommen werden. Auch wenn wir dadurch gar nicht mehr (oder weniger) Kompetenzen in unseren eigentlichen Kernbereichen aufweisen. Da steckt unheimlich viel drin. Man könnte vermutlich mit Debatten rund um Diversity mal weiterdenken. Lass mal bald einen Teams-Kaffee dazu trinken!
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